Emily und Rodney Harris haben beide am Bell College of Arts and Sciences gearbeitet: er als Professor für Biowissenschaften, sie als Professorin für englische Literatur. Inzwischen sind sie emeritiert. Und nach mehr als fünfzig Ehejahren längst unzertrennlich. Was auch nötig ist, denn Emily und Rodney haben nicht nur beide eine Akademikerkarriere hinter sich, sondern auch eine höchst seltsame Methode, mit den Lasten und Malaisen, die das Alter mit sich bringt, fertig zu werden. Und wenn es Holly Gibney nicht gäbe, die Stephen King in seinem neuen Roman von der Neben- zur Hauptfigur befördert, würden in der beschaulichen kleinen Stadt, in der Holly spielt, noch immer Menschen am helllichten Tag auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Von DIETMAR JACOBSEN
Bereits in seinem ersten Kapitel legt der neue Roman von Altmeister Stephen King die Karten auf den Tisch. Denn wir dürfen einer emeritierten Professorin und ihrem ebenfalls als ehemaliger Hochschullehrer zu Ehren gekommenen Gatten, Emily und Rodney Harris, dabei zuschauen, wie sie auf einem einsam gelegenen Parkplatz einen Dozenten des Bell College of Arts and Sciences, zu dessen Lehrkörper sie selbst einst zählten, mit einem schlauen Trick überwältigen.
Erwachen tut der bedauernswerte Mann im schallisolierten Keller des Akademikerpaares, wo ihm rohe Leber serviert wird und ein elektrischer Holzhäcksler darauf wartet, zweckentfremdet verwendet zu werden. Emily und Rodney befinden sich nämlich auf einem ganz besonderen Trip. Der passt sehr gut ins Horroruniversum von Stephen King, auch wenn der sich diesmal dazu entschlossen hat, einen veritablen Thriller vorzulegen, in dem das fantastische Element bis zum Ende ausgespart bleibt.
Eine Neben- wird zur Hauptfigur
Holly Gibney ist passionierten King-Fans natürlich keine Unbekannte mehr. Seit Mr. Mercedes (2014) taucht sie ziemlich regelmäßig in seinen Romanen und Erzählungen auf. Die Mitfünfzigerin hatte früher psychische Probleme, die sich allerdings, seitdem sie das Detektivbüro »Finders Keepers« leitet, weitestgehend gelegt haben. In Holly, dem Roman, der ihren Namen im Titel trägt und dessen Haupthandlung im Jahr 2021 spielt, hat sie gerade ihre Mutter beerdigt, die an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben ist, als sie angeheuert wird, das unerklärliche Verschwinden der jungen Bibliothekarin Bonnie Dahl zu klären. Und ohne es zunächst zu ahnen, gerät sie mit ihren Nachforschungen immer näher an den perversen Kosmos eines Forscherpaares heran, das dem Problem der Hinfälligkeit des alternden menschlichen Körpers auf ganz besonders perfide Weise entgegenzuwirken sucht.
Kompositorisch äußerst raffiniert und erzählerisch meisterhaft lässt Stephen King in seinem neuen Roman die Bemühungen der Ermittlerin Holly Gibney – sie beginnen am 22. Juli 2021 und erreichen eine Woche später, am 29. Juni 2021, ihren spektakulären Höhepunkt – und das Abdriften zweier hochbetagter Menschen – einst angesehene Wissenschaftler, inzwischen jede Spielart des Bösen akzeptierend, wenn dadurch nur die geringste Chance besteht, ihren körperlichen Verfall aufzuhalten – in den Wahnsinn gegeneinander laufen. So kann man auf der einen Seite verfolgen, wie Holly und ihre Freunde, die Schwarzen Geschwister Barbara und Jerome Robinson vor allem, der Lösung des Falles um die verschwundene Bibliothekarin, der sich nach und nach lediglich als die aktuelle Spitze eines Eisbergs von Ungeheuerlichem herausstellt, immer näher kommen. Wesentlich weiter in die Vergangenheit, und zwar bis in den Oktober 2012, reicht der zweite Erzählfaden zurück, der die entscheidenden Stationen der Verbrecherkarriere der inzwischen weit über 80-jährigen Emily und Rodney Harris nachverfolgt.
»Das Böse ist einfach grenzenlos.«
Dass eine Kriminalgeschichte, bei der die Täter von der ersten der (King-üblichen) über 600 Seiten bis zum Schluss bekannt sind, über diese lange Erzähldistanz spannend bleibt, ist so selbstverständlich nicht. Es braucht schon einen sein schriftstellerisches Handwerk perfekt beherrschenden Autor und klug ersonnene Figuren, deren Wege – mögen sie zum Guten oder zum Bösen führen – so beschrieben werden, dass man ihnen gern und mit Neugier folgt. Auch ein bisschen Angst darf man um die sympathische, ihre Verhuschtheit, wenn sie sich an einem Fall festbeißt, schnell hinter sich lassende Holly haben. Denn schließlich ist sie einem Pärchen auf der Spur, dem sie die Untaten, die von den beiden begangen werden, selbst nicht zutraut. Wie sollen auch zwei gebrechliche, über 80 Jahre alte Menschen, Intellektuelle zumal, jenes Ungeheuerliche getan haben, was offensichtlich gleich in mehreren Fällen getan worden ist?
So denkend, rächt es sich dann fast, dass Kings Heldin in dem Moment, da sie begreift, welchen Monstern sie nachjagt, ein wenig unvorsichtig zu Werke geht. Aber diese Holly Gibney liegt ihrem Erfinder so am Herzen – dass er sie »von Anfang an geliebt [hat] und sie wieder begleiten wollte«, bekennt Stephen King in seiner Nachbemerkung zum Roman –, dass er ihr am Ende, das noch einmal richtig blutig wird, einfach einen rettenden Engel schicken muss.
Ein Roman über das Amerika von heute
Ganz nebenbei übrigens ist Holly ein Roman über das Amerika von heute. Und eingeschrieben in seine Hauptfigur hat der Autor auch seine eigenen Überzeugungen. Dass Holly Gibney, als der Roman beginnt, gerade ihre Mutter an das Corona-Virus verloren hat kommentiert eine Romanfigur hinter ihrem Rücken zum Beispiel so, dass Charlotte Gibney nicht an der Krankheit, sondern an ihrer eigenen »Blödheit« gestorben sei, weil sie ungeimpft war, das Maskentragen verweigerte und Corona, wie zahlreiche andere Figuren, denen Holly bei ihren Nachforschungen begegnet, für eine Erfindung der Medien hielt.
Entsprechend findet man Kings Heldin, die sich gelegentlich auch durch übervolle Krankenhäuser schlagen muss, in diesem Roman nie ohne Maske bei Begegnungen mit anderen Menschen und immer mit einer Frage auf den Lippen: Geimpft oder ungeimpft und, wenn ja, womit? Dass auch jener »Schnellredner mit der roten Krawatte« und seine Anhänger mit ihren drei Hauptkennzeichen – »Christ, NRA-Mitglied, stolzer Südstaatler« – Erwähnung finden und weder vor Hollys noch vor den Augen ihres Erfinders Gnade finden, ordnet diesen Roman, nach seinem doch streckenweise etwas verwirrenden Vorgänger Fairy Tale (2022), wieder Kings besseren und wirklichkeitsgesättigteren Büchern zu.
Übrigens: Im Namen des Professorenpaares eine kleine Reverenz an den Erfinder der Hannibal-Lecter-Tetralogie, Thomas Harris, zu sehen, ist bei einem literarisch versierten Autor wie Stephen King sicher nicht ganz falsch. Auch Hannibal the Cannibal hält sein wahres Wesen sorgsam verborgen. Der akademisch gebildete forensische Psychologe erscheint in der Öffentlichkeit als eloquenter Weltmann mit einem ausgeprägten Sinn für alles Ästhetische. Und teilt mit Emily und Rodney Harris nicht nur das Milieu, in dem man sich bewegt, sondern auch bestimmte, tabuisierte Essgewohnheiten.
In Holly Gibney deshalb aber gleich eine Nachfahrin von FBI-Agentin Clarice Starling zu vermuten, führte wohl zu weit. Aber wer kennt schon die Zukunft? Dass Holly eine haben wird, die sich nicht allzu sehr von ihrem gegenwärtigen Leben unterscheidet – sie könnte sich auch zur Ruhe setzen, denn der Nachlass ihrer verstorbenen Mutter hat sie praktisch über Nacht zur Millionärin gemacht –, macht das Ende des Romans freilich deutlich. Und so, wie Stephen King an dieser Figur hängt, müssen wir sicher nicht allzu lange warten, bis sie uns Leser auf ihre nächste Mörderjagd mitnimmt.
| DIETMAR JACOBSEN
Titelangaben
Stephen King: Holly
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
München: Wilhelm Heyne 2023
640 Seiten. 28 Euro
| Erwerben Sie diesen Band protofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Stephen King in TITEL kulturmagazin